(K)ein Ende in Sicht

Und da war sie, die Post-Alp-Halbzeitflaute.

Die längste Zeit rum, und doch noch viiiele Tage, die kommen.

Routine ausgefeilt, Arbeit verfeinert, verbessert und effizient gemacht. Fragen beantwortet, Probleme gelöst, Herausforderungen bestanden, Krisen überwunden. Viele Handgriffe gehen fast im Schlaf, unbewusst. Der Geist kann bei der alltäglichen Arbeit wandern und wandeln. Der Alltag ist zum Alltag geworden.

Überraschend tauchte bei einem der alltäglichen Ziegensuchspaziergänge (bei dem ich die Ziegen schon wieder auf der hintersten Nachbarweide fand) der Gedanke auf: "Und jetzt könnte ich eigentlich nach Hause gehen..."

Der Gedanke kam nicht als Überdruss um die Ecke, sondern gepaart mit vermehrten Ideen, was ich so alles im Herbst machen möchte und einer sich leise anschleichenden Vorfreude auf Dinge wie Ausschlafen, Eisessen, im See baden und ungestört lange Gespräche mit Freunden führen.

... und das alles schien eigentlich noch zu lange hin, um die Vorfreude frisch zu halten und sie nicht in Ungeduld umschlagen zu lassen.

 

Ups!

 

Das kenne ich gar nicht!

Ich, die Älplerin mit Leib und Seele.

13 Alpsommer und zum ersten mal das Gefühl, jetzt wär's dann auch genug?

 

Nunja, zum ersten mal wahrscheinlich nicht. In den Alpsommern mit Teams ist der späte August die prädestinierte Zeit für Teamkonflikte, komplizierte Verliebtheiten in  den Senn oder einen Nachbarälpler, Erkältungen, Verletzungen, ausschweifende Kessibadesessions und alkoholisierte Tanzevents auf Countrymusik.

Oder aber, man nutzt die Zeit, die durch geringere Milchmenge und die Möglichkeit, nur noch jeden zweiten Tag zu Käsen gegeben ist für gesündere Ablenkungsmanöver wie Gipfelbesteigungen, Nachbaralpbesuche, wunderschöne Verliebtheiten in Nachbarälpler, Ausflüge zu potentiellen zukünftigen Alpen, Dörfern oder zum Eisessen.

Nichts davon ist hier wirklich gegeben.

Ich werde bis zum Ende täglich Käsen. Die Ziegen haben weniger Milch und weniger Stalldruck und ziehen drum immer weiter, was bedeutet, dass ich eher mehr Zeit beim Ziegen Suchen verbringe. Noch dazu bin ich alleine, kann mich also mit niemandem streiten, in niemanden Verlieben und mein Kessi ist zu klein zum Baden.

Da heisst es also ausharren und die Gefühle fühlen. Und das noch sooo viele Tage...

Tag 69 von 100 war gerade erst vergangen...

30 kommen noch, vier Wochen und 1Tag.

Also knapp noch ein Drittel to go.

 

Der nächste (der zehnte) Sonntag kam. Wie jeden Sonntag mit der Alpmeisterfamilie im Gepäck und den typischen weiteren Sonntagsgästen. Wie jeden Sonntag mit Cervella, grillierten Paprika, einer Tüte Chips, Kaffe Schnaps, Käseverkostung und anzüglichen Witzen.

Nebenbei lässt der Alpmeister verlauten, das in diese  Jahr, in dem alles anders ist, auch der Alpabzug zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden könnte, nämlich ein paar Tage früher als geplant - vielleicht sogar eine ganze Woche.

Eine Woche!

Ein Schauer durchfährt mich.

Eine Woche! Das heisst (inzwischen wars Tag 72), keine 28 Tage mehr, sondern 21. Keine vier Wochen mehr, sondern drei, nicht ein Drittel to go, sondern nur noch ein Viertel....

In mir platzt eine kleine Blase, und heraus quillt übermütige Freude, die mich kaum noch stillsitzen lässt. Wie ein Kind ruckel ich auf der hölzernen Bank hin und her.

 

Ups...

will ich also doch so dringend weg?

Nein!

Was mir aber in diesem Moment bewusst wird, war... es ist bisher alles gut gegangen!

Es ist alles gut gegangen! Dreiviertel der Zeit.

Der Käse ist gut, die Tiere sind gesund, mir geht es gut. Keine Krankheiten, keine Unfälle, keine Missgeschicke. Keine Zerwürfnisse, keine Konflikte, keine grossen Krisen.

Und mit einem mal fällt eine Anspannung von mir ab, von der ich gar nicht wirklich gewusst hatte, dass sie da war - so gut hatte ich sie kaschiert.

Das war es nun also:

Fast geschafft, der grosse Traum, die grosse Herausforderung - nach 12 Sommern einen Sommer komplett allein z'Berg...

Und nun sind es noch drei Wochen. Drei Wochen, 21 Tage - eine überschaubare Zeit.

Ein fraglos machbarer Zeitraum.

Ich fühle mich aufgeregt, übermütig und stolz!

 

Und dann, am selben Abend, ich, auf meinem Melkschemel, vornübergebeugt, eine warme, weiche Zitze in der Hand, da durchfährt es mich zum zweiten Mal: "Nur noch 21 mal Käsen, 21 mal Geissen holen, 21 mal Käseschmieren, 21 Nächte, 21 mal morgens Melken und 21 mal abends Melken, 21 mal Stallmisten, 21 Sonnenaufgänge und 21 Abendstimmungen.

Und jedes einzelne davon will ich ganz bewusst erleben. Für 21 mal, das geht. Aufsaugen, einatmen, verankern, speichern, spüren, geniessen, wach und präsent und bewusst.

 

Wie schnell sich das ändern kann.

Gerade noch das Gefühl von Wiederholung, Eintönigkeit, der leichte Geschmack von Langeweile.

Und dann mit einem mal fühlt sich jeder Moment an wie eine kostbare Perle. Einzigartig. Bloss nicht drüber huddeln, aufmerksam sein, genau betrachten!

 

Und der einzige Unterschied ist in meinem Kopf passiert. In der Art, wie ich hinschaue, wie ich in Relation setze, welche Perspektive ich einnehme.

 

Wenn ich könnte, würde ich entscheiden, von jetzt an immer alles so zu betrachten - und so zu leben - als wären es die letzten drei Wochen!

Vielleicht kann ich ja!

Dann tue ich das jetzt!

 

 

 

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