Der Berg spuckt Steine

Ich liege im Bett -  das Fenster offen. Draussen rumort es, ein Donner nach dem anderen rollen krachend über den Kamm. Blitze zucken. Das Gewitter entläd sich im Nachbartal. Ich kann aus sicherer Entfernung das Schauspiel betrachten.
Ich mag Gewitter - wenn ich unter einem schützenden Dach sitze. Die aufgeladene Athmosphäre, das Wilde, die Schönheit der unberechenbaren Blitze, das unbändige Grollen der Donner. Ich fürchte Gewitter, beinahe mehr als alles andere, wenn ich ungeschützt draussen in den Bergen unterwegs bin.
Wie oft habe ich schon überlegt, was ich dann machen soll: platt auf den Boden oder zusammenkauern, auf einem Bein mit möglichst wenig Bodenkontakt oder viel. Lieber rennen, was das Zeug hält.

Und was habe ich gemacht? Ich bin gerannt, was das Zeug hält, zugegebenermaßen, ohne viel Kontrolle über diese Reaktion. 
Gewitter sind unkontrollierbar.
Ebenso wie Steinschlag.

Gestern war ich unterwegs auf der Suche nach den Ziegen. Gerade ärgerte ich mich, dass mein Schuh zum ixten mal aufgegangen war und beugte mich runter um ihn erneut zu binden. Da krachte es über mir. Ein unverkennbares Geräusch. Ich sah auf, unweit von mir, ungefähr 5 Minuten weiter auf dem Weg kugelte und hüpfte ein Kinderbauch grosser Stein den Berg hinunter, kreuzte mehrfach den Wanderweg, bis er schliesslich am Fuss des hangs krachend in einem Haufen anderer Steine zur Ruhe kam. Eindrücklich!
Ich bedankte mich innerlich bei meiner Unfähigkeit, meine Schuhe richtig zu binden. Denn ich wäre sonst schon weiter vorne gewesen. Oder auch, wenn ich nicht mein Fernglas vergessen hätte, und nochmal zurück gelaufen wäre, oder fünf Minuten früher vom Mittagstisch aufgestanden wäre, oder kürzer mit dem Hund gespielt hätte, oder, oder... ist es nur Zufall, oder schicksal?

Ich denke an meinen Freund Floh. Langzeitälpler, passioniert und leidenschaftlich. Der hat einmal gesagt, am liebsten würde er dadurch sterben, dass er von einem Stein erschlagen würde, auf der Weide, beim Kühe suchen, mitten aus seinem heissgeliebten Älpleralltag raus. Er lebt noch.
Ich denke auch an Marcel. Ein  Wanderreiter, den wir einmal in unserer H ütte beherbergten. Abends am Feuer redeten wir über Berge, Steine, Steinschlag. Mit graute vor all den Steinlawinenkegeln, den "Rutschen", über die ich tagtäglich klettern musste. Nicht nur wegen der Angst, sondern weil es auf mich wie Zerstörung, Vergänglichkeit, Niedergang der Berge wirkte. Als würden über kurz oder lang alle Berge ins Tal stürzen.

Marcel antworte folgendes: "Und was, Maike, wen sich jeder Fels und jeder Berg danach sehnt, ein Sandkorn zu sein?"

Daran denke ich heute immer noch jedes mal, wenn ich einen Bergrutsch sehe. Und es hat mich tatsächlich mit dem Anblick versöhnt.
Was aber ist mit meiner eigenen Vergänglichkeit?
Eine Woche vor Beginn der Alp Zeit fragte mich eine Freundin, wie sie denn bitte davon erfahren würde, würde mir etwas passieren in den Bergen.

Ich hatte nichts vorgesorgt. (Und das, obwohl dies mein 13 Alpsommern werden würde).

Das setzte dann einen steinlawinenartigen Strom an  Gedanken in Gang, dem schnelle Taten folgten. Ich verteilte Kontaktdaten, sortierte Ordner mit den wichtigsten Infos, informierte eine Freundin, schrieb Testament, Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung (die Vordrucke lagen seit sechs Jahren unangetastet in meiner to do Schublade). Kurz überfiel mich der Gedanke, ob ich damit nicht den Teufel an die Wand malte und die bösen Geister rief - ganz im Sinne von fullfilling profecy.

So ungefähr die beste Ausrede, sich nicht um diese Angelegenheiten zu kümmern.
Und erstaunlicher Weise, als ich dann weiter den Berg hoch laufe, genau an der Stelle, an der gerade der Felsbrocken runter krachte, laufe ich mit einem leichteren Gefühl als sonst.
Es fühlt sich gut an, vorgesorgt zu haben. dass nicht, Im Fall des Falles, werden meine Nahen nicht ohne jegliche Informationen dastehen.

Es fühlt sich gut an, der Realität ins Auge zusehen, dass das Leben endlich ist. Und wann, dass wissen wir nicht. Es kann also auch heute sein. Und das nicht nur auf dem Berg.

Es fühlt sich lebendig an, dem Gedanken an den Tod nicht auszuweichen, sondern ihn auf der rechten Schulter mit sich zu tragen.

 

Eine Entscheidung kann ich dann doch noch nicht treffen:
Ich möchte mir  eine Kurzwahlnummer in mein Handy einspeichern, die ich schnell anrufe, falls ich in missliche Lage, sagen wir, noch nicht ganz tot, unter Steinen begraben am Berg liegen sollte.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich jemanden einspeichern, der dann schnell Hilfe holt, oder jemanden, mit dem ich in en letzten Momenten meines Lebens noch einmal reden möchte.

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